Das Movimento Nacional de Direitos Humanos (MNDH Brasil) erstellte (mit Unterstützung der Articulação para o Monitoramento dos Direitos Humanos no Brasil (AMDH)) diesen Bericht zum Stand der Umsetzungen der Empfehlungen dritter Staaten an Brasilien im UN-Menschenrechtssystem und fokussiert dabei auf die Empfehlungen Deutschlands an Brasilien in den drei Bereichen außergerichtliche Hinrichtungen, den Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen und den Schutz der Indigenen Völker. KoBra und FDCL legen hiermit die deutschsprachige Übersetzung des Berichts von MNDH vor [hier als PDF auf Deutsch, das Original auf Portugiesisch findet sich als PDF hier. Oder hier mit Hintergrundnachricht bei den Kolleg:innen von MNDH Brasil.].

BERICHT ÜBER DIE UMSETZUNG DER EMPFEHLUNGEN IM RAHMEN DES UPR-VERFAHRENS SEITENS BRASILIENS1*

Brasilien, September 2024.

Vorstellung

1. Dieses ist ein Teilbericht, der über den Stand der Umsetzung seitens Brasiliens gegenüber den von Seiten des deutschen Staates im Rahmen des Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren (UPR) vorgelegten Empfehlungen berichten soll. Der Bericht zielt darauf ab, die verschiedenen für die Umsetzung der Empfehlungen zuständigen Stellen zu unterstützen.

Kurze Kontextualisierung

2. Der brasilianische Staat unterlag 2022-2023 im Rahmen des Allgemeines Periodisches Überprüfungsverfahren (UPR) des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen dem wiederkehrenden Überprüfungszyklus. Zu Beginn des 4. Zyklus’ nahm Brasilien die Empfehlungen2 der 52. Tagung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen am 27. März 2023 entgegen. Deutschland legte dabei drei Empfehlungen vor: eine über außergerichtliche Hinrichtungen (149.95), eine über den Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen (149.163) und einen über den Schutz der Indigenen Völker (149.257). Alle Empfehlungen wurden seitens des brasilianischen Staates angenommen.

3. Sämtliches diesbezügliches Vorgehen der brasilianischen Zivilgesellschaft im Rahmen dieses Prozesses erfolgte vernetzt über das Coletivo RPU Brasil3. Dieses Netzwerk ist von fundamentaler Bedeutung für den Aufbau von Konvergenz und die Artikulation der Interessenvertretung gegenüber den verschiedenen Staaten, die am Überprüfungsprozess bei den Vereinten Nationen teilnehmen, sowie gegenüber dem brasilianischen Staat. Die brasilianische Zivilgesellschaft hat Berichte vorgelegt, die diese Empfehlungen unterstützen, und obwohl sie aus dem Jahr 2022 stammen, enthalten sie wichtige Informationen: Es gibt einen allgemeinen Bericht4 und spezifische Berichte über die drei Empfehlungen Deutschlands: über außergerichtliche Hinrichtungen (149.95)5, über den Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen (149.163)6 und über den Schutz der Indigenen Völker (149.257)7.

4. Anderthalb Jahre später (und kurz vor der Vorstellung des Halbzeitberichts), zeigen die Organisationen der brasilianischen Zivilgesellschaft sich erheblich besorgt in Bezug auf den Prozess des Monitoring und der Umsetzung der Empfehlungen, da der brasilianische Staat gerade erst damit beginnt, die Umsetzung eines Überwachungssystems für internationale Menschenrechtsempfehlungen zu systematisieren (SIMORE brasileiro).

5. Die Empfehlungen Deutschlands lauten:

149.95 End extrajudicial killings by police units and associated impunity, including by expanding the use of less-lethal weapons and bodycam.

149.163 Ensure that the national programme for the protection of human rights defenders is implemented in all states and is adequately funded.

149.257 Protect Indigenous Peoples from threats and attacks and guarantee their land rights, in particular by resuming and completing land demarcation processes, providing adequate resources to the National Indian Foundation, fully recognizing autonomous consultations and consent protocols, and strengthening land protection orders.

Kurzer Bericht über jede Empfehlung

6. In diesem Abschnitt stellen wir den aktuellen Sachstand8 vor, gefolgt von einer kurzen Analyse jeder einzelnen Empfehlung, unter Bezugnahme die für den Zeitraum zugänglichen Informationen.

149.95 Außergerichtliche Hinrichtungen

[„End extrajudicial killings by police units and associated impunity, including by expanding the use of less-lethal weapons and bodycam.“]

7. Aktueller Sachstand: NICHT UMGESETZT

8. Kurzanalyse: Die Polizeigewalt weist nach wie vor hohe Zahlen auf. Laut dem Jahresbericht für 2024 des Fórum Brasileiro de Segurança Pública9 wurden 6.393 Personen (17 getötete Personen je Tag) Opfer von Polizeigewalt im Jahre 2023 – dies entspricht einer Rate von 3,1 Getöteten je 100.000 Einwohner:innen –, von diesen sind 82,7% afrobrasilianisch, 71,7% Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 29 Jahren und 99,3% sind Männer. Diese Zahl bedeutete einen Anstieg von 188,9% gegenüber dem Jahr 2013. Die Altersgrupe von 18 bis 24 Jahre weist eine drei Mal höhere Sterblichkeitsrate auf als der landesweite Durchschnitt: 9,8 Tote je 100.000 Einwohner:innen. In Bezug auf Race, zeigt sich, dass während die Sterblichkeitsrate bei weißen Personen bei 0,9 Todesfällen je 100.000 weißer Personen war, lag die Rate bei Afrobrasilianer:innen bei 3,5 je 100.000 afrobrasilianischer Personen – was bedeutet, dass diese Rate um 289% höher liegt als die unter weißen Personen festgestellte Rate und beweist die rassistische Voreingenommenheit bei der Vorgehensweise und Gewaltanwendung der brasilianischen Polizei. Objektiv betrachtet handelt es sich nicht nur um ein häufig vorkommendes Phänomen, sondern auch um ein perverses Strukturphänomen in Bezug auf Ethnie, Geschlecht und Generation/Alter, von der vor allem junge afrobrasilianische Männer betroffen sind. Im Jahr 2023 wurden 54 Polizeibeamt:innen im Dienst und 73 außerhalb des Dienstes getötet.

9. Die höchste Anzahl an Opfern befand sich in Bahia, dort wurden 1.699 Personen im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen getötet. An zweiter Stelle liegt der Bundesstaat Rio de Janeiro, mit 871 Opfern, und der Bundesstaat Pará an dritter Stelle, mit 525 Getöteten. Zieht man die Sterblichkeitsrate heran, so ändert sich das Bild, sodass der Bundessstaat Amapá mit 23,6 Toten je 100.000 Einwohner:innen eine um 661% höhere Quote als der landesweite Durchschnitt aufweist; der Bundesstaat Bahia weist mit zwölf Toten je 100.000 Einwohner:innen die zweithöchste Rate auf. An dritter Stelle liegt der Bundesstaat Sergipe, mit 10,4 Toten je 100.000 Einwohner:innen; an vierter Stelle der Bundesstaat Goiás mit 7,3 Toten je 100.000 Einwohner:innen; Pará findet sich an fünfter Stelle mit 6,5 Toten je 100.000 Einwohner:innen und Rio de Janeiro rangiert auf dem siebten Platz der tödlichsten Polizeikräfte.

10. Der brasilianische Staat wurde wegen der Polizeigewalt in verschiedenen internationalen Gremien verurteilt. Der Interamerikanische Gerichtshof verurteilte Brasilien im Februar 2017 im Fall der Favela Nova Brasília, gelegen im Complexo do Alemão, in Rio de Janeiro, wegen der Exekution von 26 Männern und der sexuellen Gewalt an 3 Frauen. Weitere Verurteilungen folgten im März 2024 in Bezug auf die „Operação Castelinho“, wegen der Exekution von zwölf Personen im März 2022 durch die Militärpolizei von São Paulo. Ebenfalls verurteilte wurde Brasilien im Fall des Todes von Antônio Tavares sowie der an 185 Mitglieder:innen der Landlosenbewegung MST im Bundesstaat Paraná im Mai 2000 begangenen Körperverletzungen. Es ist wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Gerichtshof beim letzten Urteil festgelegt hat, dass der brasilianische Staat sein Rechtssystem anpasst, um zu verhindern, dass die Militärjustiz über Straftaten urteilt, die von der Militärpolizei an Zivilisten begangen werden.

11. Maßnahmen wie die Anwendung nicht-tödlicher Waffen und das Tragen von Bodycams stellen einige Fortschritte dar, gleichwohl begrenzten Effekts, da die rechtliche Zuständigkeit für die Polizeikräfte bei den einzelnen Bundesstaaten liegt und diese Entscheidungen treffen müssen. Die Bundesregierung, mittels des Ministeriums für Justiz und Öffentliche Sicherheit (MJSP) hat Leitlinien für den Einsatz von Körperkameras durch öffentliche Sicherheitsdienste aufgestellt (Portaria MJSP n. 648/202410), durch die die Auszahlung von Mitteln aus dem Nationalen Fonds für öffentliche Sicherheit und dem Nationalen Strafvollzugsfonds an Bedingungen geknüpft werden. Im Juli 2024 hat das Bundessekretariat für Öffentliche Sicherheit Senasp des Justizministeriums einen Bericht veröffentlicht11, der der Formulierung öffentlicher Politiken hin zu einer Verbesserung der polizeilichen Praktiken und der Stärkung des Vertrauens der Gesellschaft in die öffentlichen Sicherheitseinrichtungen dient. Die Initiativen zeigen die Grenzen des Handelns der Bundesregierung auf, die, obwohl sie sehr wichtig ist, nicht die Macht hat, direkt in die Polizeikräfte einzugreifen, die für die meisten Todesfälle verantwortlich sind, da dies in die Zuständigkeit der Regierungen der Bundesstaaten fällt. Nach Angaben des MJSP sind die Polizeikräfte von Bahia, Rio de Janeiro, São Paulo, Santa Catarina, Minas Gerais, Rondônia und Roraima dabei, Körperkameraprojekte im Bereich der öffentlichen Sicherheit einzuführen – das bedeutet, dass weniger als ein Drittel der Bundesstaaten Körperkameras eingeführt haben.12 Das Gleiche gilt für nicht-tödliche Waffen, da die Bundesregierung zwar Anreize für deren Einsatz bietet, die Verantwortung für ihren Einsatz aber in die Zuständigkeit der Landesregierungen fällt.

149.163 Schutz der Menschenrechtsverteidiger:innen

[„Ensure that the national programme for the protection of human rights defenders is implemented in all states and is adequately funded.“]

12. Aktueller Sachstand: TEILWEISE UMGESETZT

13. Kurzanalyse: Menschenrechtsverteidiger:innen sind in Brasilien weiterhin Risiken ausgesetzt. Obwohl sich die politischen Verhältnisse geändert haben, gibt es nach wie vor ernste Situationen, die diejenigen betreffen, die an den verschiedenen Fronten des Kampfes für die Menschenrechte arbeiten. Im Bereich der öffentlichen Politik wurden Schritte unternommen, die jedoch noch nicht ausreichen, um das Notwendige zu erreichen.

14. Im untersuchten Zeitraum gab es eine Kürzung des Programmes zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger:innen, Kommunikator:innen und Umweltschützer:innen (PPDDH), das in elf Bundesstaaten implementiert wurde (Pará, Amazonas, Maranhão, Ceará, Paraíba, Pernambuco, Bahia, Minas Gerais, Rio de Janeiro, Rio Grande do Sul und Mato Grosso). In Rio de Janeiro und Amazonas wurde es in das Bundesprogramm integriert und existiert nicht mehr. Das einzige Programm, das neu wieder aufgenommen wird, ist in Espírito Santo. In der Praxis gibt es also statt elf Programmen nur noch zehn. Wichtig zu wissen ist, dass diejenigen Bundesstaaten ohne eigenes Landesprogramm durch ein Bundesprogramm abgedeckt werden, mit einigen dezantralen Einheiten (Rondônia, Amazonas, Rio de Janeiro und Mato Grosso do Sul), einer für Roraima angekündigten Einheit (die sich besonders um die Bedürfnisse der Yanomami kümmern soll). Bei den Finanzmitteln gab es einen Anstieg, der die Kürzungen wieder ausglich. Zum Ende der Bolsonaro-Regierung waren etwas mehr als 9 Millionen R$ im Bundeshaushalt für das Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen, Kommunikator:innen und Umweltschützer:innen (PPDDH) vorgesehen, das nun 18,9 Millionen R$ für das Jahr 2023 zur Verfügung hat,13 so dass die Mittel für 2024 beibehalten wurden.

15. Im vergangenen Jahr wurden wichtige Schritte in Bezug auf den Aufbau neuer Schutzstrukturen getätigt. Dazu zählt die Wiedereinsetzung des Conselho Deliberativo do Programa Federal14 mit paritätischer Besetzung als auch die Schaffung und Einsetzung der Technischen Arbeitsgruppe Grupo de Trabalho Técnico Sales Pimenta.15 Im ersten Fall reagiert Brasilien auf ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes im Fall Sales Pimenta vs. Brasil, im zweiten Fall auf eine Verurteilung des Tribunal Regional Federal da 4ª Região und auf eine des Interamerikanischen Gerichtshofes im Falle Sales Pimenta vs Brasil.

16. Die kirchliche Fachstelle für Landfragen Comissão Pastoral da Terra – CPT – hat in ihrem Bericht von 202316 insgesamt 2.203 Landkonflikte im Jahr 2023 konstatiert, was der größten Anzahl seit Beginn der Erhebungen im Jahre 1985 darstellt. Die Gewalt gegen Menschen erfolgte demnach in 554 Fällen, die 1.467 Personen betrafen, darunter 31 Morde (ein Rückgang um fast 34% in Bezug auf das Vorjahr, als 47 Personen auf dem Land ermordet wurden). Die Arten von Gewalt, die die meisten Opfer forderten, waren: Pestizidvergiftung mit 336 Opfern, Todesdrohungen (218), Einschüchterung (194), Kriminalisierung (160), Festnahme (135), Körperverletzung (115), Inhaftierung (90) und private Inhaftierung (72), die alle im Vergleich zum Vorjahr zugenommen haben. Die Hauptverantwortlichen für Gewalt in der Landfrage waren Landbesitzer:innen, die für 31,2 Prozent der gesamten Gewalt in diesem Bereich verantwortlich waren, gefolgt von Geschäftsleuten (19,7 Prozent), der Bundesregierung (11,2 Prozent), Landräuber:innen (9 Prozent) und den Regierungen der Bundesstaaten (8,3 Prozent).

17. Das Bild der Situation zeigt, so der Bericht von Global Witness von 202317, dass 196 Land- und Umweltverteidiger:innen weltweit ermordet wurden und dass von diesen 25 in Brasilien verübt wurden, das den zweiten Platz in der Anzahl an Morden weltweit einnimmt. Von den Morden in Brasilien betreffen über die Hälfte Indigene, 10 Landlose und vier Afrobrasilianer:innen.

17. Der Bericht über Gewalt gegen Journalist:innen, erstellt vom Bundesdachverband der Journalist:innen Federação Nacional dos Jornalistas (Fenaj)18, zählte für das Jahr 2023 181 Fälle. Dies entsprach einem Rückgang um 51,86% in Bezug auf 2022 (als 376 Fälle gezählt wurden). Dieser Rückgang betraf die meisten Kategorien von Gewalt, mit Ausnahme der von Diskreditierung der Presse und Zensur. Die Zahl der Bombenanschläge und Cyberangriffe sank von fünf auf einen bzw. von neun auf einen, wenn man die Jahre 2022 und 2023 betrachtet.

18. Die Gewalt gegen Quilombolas wird erfasst und dokumentiert durch die landesweite Koordination des Netzwerkes der ländlichen Quilombola-Gemeinschaften (Coordenação Nacional de Articulação das Comunidades Negras Rurais Quilombolas – Conaq)19. Im Zeitraum 2018 bis 2022 wurden 32 Quilombolas ermordet. Zugleich verschlimmerte sich die Situation, im Vergleich zum vorherigen Zeitraum von 2008 bis 2017: der jährliche Durchschnitt an Morden stieg in dem Zeitraum von 3,8 auf 6,4 Ermordete. Die meisten Morde an Quilombolas wurden im Nordosten (65,6 %), im Norden (12,5 %) und im Südosten (9,4 %) registriert, während der Süden und der mittlere Westen zwischen 2018 und 2022 6,25 % der Morde verzeichneten.. 2023 wurde der Mord an Mãe Bernadete verübt20, Quilombola-Anführerin der Koordination von Conaq, aus dem Quilombo de Pitanga dos Palmares, in Bahia, die im Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidiger:innen war. Des Weiteren wurden im Jahr 2023 sechs weitere Quilombolas ermordet (Daten bis November 2023)21.

149.257 Schutz der Indigenen Völker

[„Protect Indigenous Peoples from threats and attacks and guarantee their land rights, in particular by resuming and completing land demarcation processes, providing adequate resources to the National Indian Foundation, fully recognizing autonomous consultations and consent protocols, and strengthening land protection orders.“]

19. Aktueller Stand: NICHT UMGESETZT UND RÜCKSCHRITTE

20. Kurzanalyse: Der Hauptgrund für die Rückschritte ist die festgefahrene Situation der Stichtagsreglung „Marco Temporal“22, auch wenn das Jahr 2023 startete mit der Neueinrichtung eines Ministeriums für Indigene Völker (MPI) und der Ernennung von indigenen Führungskräften zur Leitung des neuen Ressorts, ebenso der Bundesindigenenbehörde Fundação Nacional dos Povos Indígenas (Funai) als auch des Sekretariats für Indigene Gesundheit des Gesundheitsministeriums Secretaria de Saúde Indígena do Ministério da Saúde (Sesai). Und der Oberste Gerichtshof Supremo Tribunal Federal (STF)23 erklärte die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ für verfassungswidrig und erkannte damit die indigenen Territorialrechte als Grundrechte an, weshalb diese weder geändert noch eingeschränkt werden können.

21. Gegen diese Grundrechtslesart hat der Nationalkongress ein neues Gesetz verabschiedet, die Lei N. 14.701/202324, welche die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ als Kriterium für die Demarkation indigener Territorien bestimmt und darüber hinaus eine Reihe von Rechtsbestimmungen einführt, die in der Praxis die Demarkationen verhindern und sogar die bereits demarkierten Gebiete für eine zerstörerische wirtschaftliche Ausbeutung öffnen soll. Das diesbezügliche Teilveto25 des brasilianischen Präsidenten wurde durch den Nationalkongress aufgehoben und das Gesetz trat Ende 2023 in Kraft. Währenddessen hat der gleiche Oberste Gerichtshof, der diese Verfassungsthese der Stichtagsregelung für verfassungswidrig erklärt hatte, eine Schlichtungskommission eingesetzt, um die Einsprüche über die Verfassungskonformität des Gesetzes 14.701/202326 zu klären. Aus Protest gegen dieses Vorgehen des Obersten Gerichtshofes hat der Indigenendachverband Articulação dos Povos Indígenas (APIB), sich aus der Schlichtungskammer zurückgezogen und die Parteilichkeit, mit der diese Schlichtung durchgeführt werde, gebrandmarkt. In einem öffentlichen Dokument heißt es: „In diesem Szenario sieht APIB kein Umfeld, in dem sie am Schlichtungstisch weiterarbeiten kann. Es gibt keine Garantien für einen ausreichenden Schutz, keine soliden Voraussetzungen für einen Verzicht auf Rückschritte und keine Garantie für eine Vereinbarung, die die Autonomie des Willens der indigenen Völker schützt.“.27

22. Der Bericht zu Gewalt gegen Indigene Völker in Brasilien (O Relatório Violência Contra os Povos Indígenas no Brasil – dados de 202328), erstellt vom Indigenenmissionsrat Conselho Indigenista Missionário (CIMI) zeigt, dass im Jahr 2023 insgesamt 8 Indigene Territorien demarkiert wurden (und noch 3 weitere in 2024). Der Bericht zeigt auch die Gesamtzahl von 1.276 Fällen von Gewalt gegen indigene Länder und Territorien. 850 davon sind Fälle von Versäumnissen und Verzögerungen bei der Legalisierung von Land, 150 Fälle von Konflikten um territoriale Rechte und 276 Fälle von Invasionen, illegaler Ausbeutung natürlicher Ressourcen und verschiedenen Arten von Sachbeschädigung. Ferner wird berichtet, dass von den insgesamt 1.381 indigenen Ländereien und territorialen Ansprüchen in Brasilien 850 (62 %) noch auf eine administrative Legalisierung warten, von denen 563 (fast die Hälfte der Gesamtzahl) noch nicht vom Staat abgegrenzt worden sind. Der Bericht verzeichnet auch 411 Fälle von Gewalt gegen Personen im Jahr 2023, darunter: Machtmissbrauch (15 Fälle), Todesdrohungen (17), verschiedene Drohungen (40), Mord (208), Totschlag (17), Körperverletzung (18), Rassismus und ethnisch-kulturelle Diskriminierung (38), versuchter Mord (35) und sexuelle Gewalt (23). Die Staaten mit der höchsten Anzahl von Morden an indigenen Menschen waren: Roraima (47), Mato Grosso do Sul (43) und Amazonas (36). In Bezug auf Gewalt aufgrund von Unterlassungen der Behörden weist der Bericht darauf hin, dass im Jahr 2023 1.040 indigene Kinder im Alter von null bis vier Jahren starben, wobei die meisten Todesfälle durch Ursachen hatten, die als vermeidbar gelten, darunter: Grippe und Lungenentzündung (141), Durchfall, Gastroenteritis und infektiöse Darmerkrankungen (88) und Unterernährung (57). Außerdem wurden im selben Jahr folgende Fälle registriert: allgemeine mangelnde Unterstützung (66 Fälle), mangelnde Unterstützung im Bereich Bildung (61), mangelnde Unterstützung im Bereich Gesundheit (100), Verbreitung von Alkohol und anderen Drogen (6) und Tod aufgrund mangelnder Unterstützung im Bereich Gesundheit (111), insgesamt 344 Fälle.

1 Dieser Bericht wurde mit Unterstützung der Articulação para o Monitoramento dos Direitos Humanos no Brasil (AMDH) erstellt, die ein Zusammenschluss aus Movimento Nacional de Direitos Humanos (MNDH Brasil), Processo de Articulação e Diálogo (PAD) und Fórum Ecumênico Act Brasil (FE Act) ist. [Übersetzung ins Deutsche: Christian Russau]

3 Ein geschichtlicher Überblick über das Coletivo RPU Brasil findet sich unter https://iddh.org.br/?jet_download=13272. Der Text “Balanço do Advocacy do Coletivo RPU Brasil: um breve panorama sobre as atividades desenvolvidas pelo Coletivo RPU durante o 3º ciclo da RPU no Brasil (2023)” ist zugänglich unter https://plataformarpu.org.br/storage/publications_documents/j5J0HsypccM5u4VdOKEbx2FthYbbSenqdBfOPpq8.pdf . Einen Überblick über die Umsetzung finden Sie unter: “Coletivo RPU Brasil no 4º ciclo: a participação da sociedade civil nos mecanismos nacionais de implementação e monitoramento dos direitos humanos”, zugänglich unter https://plataformarpu.org.br/storage/publications_documents/wqlxZbWs12gXXLW8GMEMAfqT7r0L7ZaSB787E6UH.pdf.

4 Der Bericht der Organisationen der Zivilgesellschaft des Jahres 2022 findet sich hier https://plataformarpu.org.br/storage/publications_documents/IFpbrZH93ZynSsnw76LIxEQNTE8R2ilUCt2BxkK0.pdf

8 Zur Einstufung des aktuellen Sachstands haben wir den Vorschlag des Coletivo RPU Brasil übernommen.

15 Dokumentation der Arbeiten der GTT Sales Pimenta finden sich unter www.gov.br/participamaisbrasil/gtt-sales-pimenta

19 Siehe “Racismo e Violência contra Quilombos no Brasil” – 2ª edição (2018-2022) disponível em https://conaq.org.br/wp-content/uploads/2023/11/Ficha-web-Racismo-e-Violencia-Ingles.pdf

26 Es sind 5 Klagen: ADC 87ADI 7.582ADI 7.583ADI 7.586 e ADO 86 , die die Verfassungskonformität des Gesetzes zur Stictagesregelung Marco Temporal behandeln (Lei 14.701/2023)..

27 Hier das Manifest in voller Länge des Indigenendachverband APIB, der den Ausstieg von APIB erklärt: https://apiboficial.org/files/2024/08/Manifesto-Sa%C3%ADda-da-C%C3%A2mara-no-STF.pdf Siehe auch die technische Erklärung in Bezug auf die Maßnahmen der Schlichtung unter https://apiboficial.org/files/2024/05/Nota_T%C3%A9cnica_sobre_a_A%C3%A7%C3%A3o_Declarat%C3%B3ria_de_Constitucionalidade.pdf